Antisemitismus ist der Sammelbegriff für unterschiedlich motivierte antijüdische Einstellungen und Handlungen. Er tritt in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen auf, hat verschiedene Erscheinungsformen und ist als gesamtgesellschaftliches Problem zu verstehen. Er ist unter Neonazis, islamistischen Gruppen, Globalisierungskritiker*innen, die zu Verschwörungserzählungen neigen, und in nicht unerheblichem Maße in der Mitte der Gesellschaft verbreitet. Zu den Besonderheiten des Antisemitismus gehört, dass er häufig mit einem System der Weltverschwörung verknüpft wird.
Woher stammt der Antisemitismus?
Der Begriff Antisemitismus entstand im 19. Jahrhundert und war eng mit der Bildung europäischer Nationalstaaten verknüpft. Doch die Basis ist weit älter: Über Jahrhunderte hatte sich ein christlicher Antijudaismus entwickelt. Jesus, nach christlicher Lehre der Sohn Gottes, war Jude. Doch schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus wurden Jüdinnen und Juden ausgegrenzt, angefeindet und bekämpft. Es wurden theologische „Argumente“ entwickelt, die sie zu Sündenböcken des „christlichen Abendlandes“ machten. Eine zentrale Rolle spielte die Behauptung, die christliche Kirche habe Israel beerbt. Die sogenannte „Lehre von der Substitution“ (Ersetzung) meint: Die Jüdinnen und Juden seien nicht mehr Gottes auserwähltes Volk, weil sie Jesus nicht akzeptiert hätten. Ein zentrales antijudaistisches Motiv ist auch der Vorwurf des Gottesmordes.
Antijüdische Mythen
Im Mittelalter fanden antijüdische Mythen breiten Eingang in die gesellschaftliche Mythen- und Legendenbildung, in Volkslieder, Kompositionen und Geschichten. So hieß es zum Beispiel, Jüdinnen und Juden würden christliche Kinder töten, und ihr Blut für das Backen von Broten verwenden. Historisch bedeutsam ist auch der Mythos der Brunnenvergiftung: Während der Pest wurde Jüdinnen und Juden vorgeworfen, Brunnen vergiftet zu haben, um Christ*innen zu schaden.
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen dienten Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte als Gegenbild. Unter anderem in den sogenannten „Befreiungskriegen“ (1813-1815) definierte sich die deutsche Nation als homogene Volksgemeinschaft, in romantisierter Rückbesinnung auf das „Germanentum“ und das christliche Mittelalter. Eine antisemitische Stereotypisierung von Jüdinnen und Juden als „Anti-Volk“ war Teil der nationalen Selbstfindung.
Rassistischer Antisemitismus
Die Entstehung des Begriffs Rassismus ist mit Jüdinnen und Juden verknüpft. Vermutlich entstand dieser im ausgehenden Mittelalter im Süden Spaniens, in dessen muslimisch beherrschten Gebieten auch Jüdinnen und Juden und Christ*innen nicht gleichberechtigt, aber doch als akzeptierte Bewohner*innen lebten. Nach der christlichen „Reconquista“ – „Rückeroberung“ – sollten Nichtchrist*innen nicht nur konvertieren; man misstraute auch den Konvertierten und ihren Nachkommen. So entstand im 15. Jahrhundert ein Rechtssystem, das eine systematische Ungleichheit auf Grundlage der ethnisch-religiösen Herkunft und Abstammung schuf: die Gesetze über die „Reinheit des Blutes“ (span.: Limpieza de sangre). Im Kontext dieser Unterscheidung entstand der Begriff „Rasse“.
Auch der Antisemitismus, der die nationalsozialistische „Arier“-Ideologie prägte, war im Kern ein Rassenantisemitismus, dessen Wurzeln bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet – nicht aus religiösen Gründen, sondern weil sie angeblich „jüdisches Blut“ in sich trugen und eine vermeintliche „jüdische Rasse“ bildeten. Die Eigenschaften, die Jüdinnen und Juden in dieser rassistisch begründeten Judenfeindschaft zugesprochen wurden, waren dabei im Wesentlichen eine Fortschreibung der überlieferten negativen Zuschreibungen. Auch heute noch ist Antisemitismus ein zentrales Merkmal der extremen Rechten.
Besonderheiten des Antisemitismus
Antisemitismus ist nicht einfach eine Spielart des Rassismus. In seiner Konsequenz ist er auf das Ziel ausgerichtet, alle Jüdinnen und Juden zu vernichten – besonders sichtbar machte dies der Holocaust, dem sechs Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer gefallen sind.
Zu seinem besonderen Charakter gegenüber anderen Formen der Menschenfeindlichkeit oder Diskriminierung gehört: Judenfeindschaft kann sich zu einem umfassenden System der Weltdeutung entwickeln, zu einer bestimmten Wahrnehmung des Judentums. Ein solches ist heute der charakteristische Ausdruck von Antisemitismus: Eingebettet in Erzählungen, Fantasien und Gerüchte über weltumspannende Verschwörungen werden gesellschaftliche Fehlentwicklungen manchmal unbewusst, allzu häufig aber auch ganz offen „den Juden“ angelastet.
Antisemitismus kann auch Menschen, Unternehmen, Institutionen, Bewegungen und Verhaltensweisen treffen, die als Teil des bekämpften „Judentums“ betrachtet werden. Dies geschieht etwa, wenn in den USA eine demokratisch gewählte Administration als „Zionistische Besatzungsregierung“ bekämpft wird. Oder wie im Iran Massenproteste gegen ein autoritäres theokratisches und frauenfeindliches Regime von der Regierung als Zersetzungsstrategie des israelischen Geheimdienstes diffamiert werden. Oder wenn eine Gewalt-, Kolonial- oder Diktaturerfahrung in manchen Gesellschaften des globalen Südens dem geheimen Wirken jüdischer (oder israelischer) Kräfte zugeschrieben wird. Oder wenn Kapitalismus nicht als gesellschaftliches System der Ausbeutung betrachtet, sondern der Gier jüdischer Finanzeliten zugeschrieben wird.
Zusammentreffen von Rassismus und Antisemitismus
Rassismus und Antisemitismus treten oft gemeinsam auf. Menschen, die judenfeindliche Einstellungen teilen, stimmen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch rassistischen Aussagen zu. Dieses Zusammentreffen von Rassismus und Antisemitismus begegnet uns in der Realität sehr oft. Ein Beispiel ist der Anschlag in Halle 2019: Der Rechtsterrorist Stephan Balliet wollte ein Massaker an Betenden in der Synagoge verüben – als das misslang, griff er einen Döner-Imbiss an, wo er einen Gast erschoss.
Neue Judenfeindschaft
Seit rund 20 Jahren begegnen uns unter dem Stichwort „Neue Judenfeindschaft“ neue Facetten. Dazu gehört ein „Entlastungsantisemitismus“: Immer wieder taucht die Behauptung auf, die angeblich überbordende Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und der Shoah rufe judenfeindliche „Reaktionen“ hervor.
In den zurückliegenden Jahrzehnten wird diese Debatte überlagert von der Unterstellung, eine „jüdische“ Erinnerungskultur habe durch die Betonung der „Singularität der Shoah“ bewirkt, dass die Erinnerung an andere Genozide, Menschheitsverbrechen und Gewaltakte marginalisiert werde. Empirisch dürfte das Gegenteil der Fall sein – und die Erinnerungskultur an die Shoah die kritische Aufarbeitung anderer Verbrechenskomplexe, einschließlich der Kolonialverbrechen, erst vorangebracht haben. Im Streit um „Opferkonkurrenz“ und „hegemoniale“ Gedenkkulturen verbirgt sich auch der Wunsch, historische Schuld loszuwerden.
Israelbezogener Antisemitismus
Nicht selten zeigt sich Antisemitismus in Form so genannter „Israel-Kritik“, auch an Schulen. Häufig steckt nicht eine legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung dahinter, sondern verdeckter Antisemitismus. Dabei wird Israel dämonisiert (z. B. mit einer Gleichsetzung Israels mit Nationalsozialismus), delegitimiert (durch das Absprechen des Existenzrechts des Staates Israels) oder es werden Doppelstandards angelegt (an Israel werden andere Maßstäbe angelegt als an andere Länder). Stereotype über Juden oder das Judentum werden auf den Staat Israel übertragen, der so als „kollektiver Jude“ ausgegrenzt wird. Und Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt werden für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht. Aufgrund eines solchen israelbezogenen Antisemitismus werden selbst schwerste Übergriffe gegen israelische Zivilist*innen und auch gegen Jüdinnen und Juden, ihre Gemeinden und Synagogen außerhalb Israels, die von vermeintlichen oder tatsächlichen Opfern israelischer Politik verübt wurden, zum Teil dramatisch verharmlost.
Nach dem 7. Oktober 2023
Diese Entwicklung hat sich seit dem 7. Oktober 2023 massiv verschärft. An diesem Tag verübte die Terrororganisation Hamas in Israel das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust: Nahezu 1.200 Menschen wurden ermordet – viele Opfer wurden bis zu ihrem Tod gefoltert und verstümmelt – und mehr als 250 als Geiseln verschleppt. Die Auswirkungen teilen das Leben der jüdischen und israelischen Community in ein Davor und Danach – auch weil die Anzahl antisemitischer Vorfälle und Straftaten in Deutschland wie Europa massiv in die Höhe geschnellt sind. 42 Prozent der jüdischen Gemeinden in Deutschland waren laut einer Umfrage des Zentralrats der Juden in den ersten zehn Monaten von 2024 von antisemitischen Vorfällen betroffen, darunter Beleidigungen, Zuschriften, Drohanrufe und Schmierereien. Die Zahl der antisemitischen Straftaten bis hin zu Gewalttaten hat sich zuletzt verdoppelt. Beratungsstellen berichten von massiv gestiegenem Beratungsbedarf mit neuer Qualität und Verdichtung antisemitischer Erfahrungen.
Antisemitismus unter Muslim*innen
Zugleich rückt seit dem Terrorangriff der Hamas Antisemitismus unter Muslim*innen verstärkt in den Fokus der öffentlichen Debatte. Antisemitisch gesonnene Muslime stellen in den heterogenen muslimischen Gemeinschaften in Deutschland eine Minderheit dar. Jedoch ist vor allem der israelbezogene Antisemitismus unter Muslim*innen zum Teil stärker verbreitet als bei der übrigen Bevölkerung, wie es die Studie „Gemessener Antisemitismus. Umfragen zu antisemitischen Einstellungen unter Muslim:innen in Europa und den USA“ (Autor: Günther Jikeli) von 2024 zeigt.
Viele in Deutschland lebende junge Muslime beziehen ihre Informationen nahezu ausschließlich aus Social-Media-Kanälen, in denen Antisemitismus zu erheblichen Teilen in ungehemmter Form und extrem emotionalisierend verbreitet wird: mit Bildern und Videos, die verwundete oder getötete Kinder zeigen, für die Israel und damit „die Juden“ verantwortlich gemacht werden. Der Zusammenhang wird dabei aber gar nicht oder nicht differenziert dargestellt – mit dem Ziel, die Schuld für menschliches Leid allein Israel und damit „den Juden“ zuzuweisen.
Erstmals führte die mediale Präsentation des Palästina-Konflikts und die Instrumentalisierung von Opferbildern zu Beginn der Al-Aqsa-Intifada – auch „Zweite Intifada“ genannt – im Jahr 2000 in Deutschland zu Demonstrationen und gewalttätigen Protesten. Auch Einrichtungen der jüdischen Gemeinden wurden getroffen. Damit einher gingen eine extreme Betonung und einseitige Betrachtung des Konflikts um die palästinensischen Gebiete bei gleichzeitiger Delegitimierung und Dämonisierung Israels.
Oft ist in diesem Zusammenhang – u. a. mit Blick auf die Ankunft zahlreicher Geflüchteter in den Jahren 2015/16 – von einem „importierten muslimischen Antisemitismus“ die Rede, was nicht selten die Funktion hat, von der Auseinandersetzung mit dem „eigenen“ Antisemitismus abzulenken. Dabei ist indes wichtig: Die erstarkende panarabisch-nationalistische Bewegung – die für einen gemeinsamen arabischen Staat eintrat – bediente sich in den 1950er-Jahren bei Elementen des modernen europäischen Antisemitismus. Den Startpunkt für die Islamisierung der aus Europa stammenden Verschwörungserzählungen setzte in den 1950er-Jahren ein Vordenker der Muslimbruderschaft, der das Narrativ einer jüdischen Weltverschwörung mit islamischen Quellen verband. Jüdinnen und Juden wurden zu Widersachern erklärt, die zu allen Zeiten die islamische Gemeinschaft bedroht hätten. So greift die Charta der Hamas von 1987 auf das antisemitische Pamphlet „Protokolle der Weisen von Zion“ zurück. Bis heute beziehen sich Antisemit*innen aller Facetten auf dieses 1905 in Russland verfasste Pamphlet.
Antisemitismus in der Schule
Schulen wirken für jüdische Kinder zum Teil als „unsichere Orte“. Antisemitismus gehört zu ihrem Schulalltag und manifestiert sich auf unterschiedlichen Ebenen: von subtilen Andeutungen bis hin zu Übergriffen in realen und virtuellen Räumen. Auch werden jüdische Schüler*innen nicht nur mit antisemitischen Inhalten konfrontiert, sondern werden exotisierenden Behandlungen ausgesetzt. Dies zeigt sich mitunter in der paradoxen Erwartung an sie, sich nicht von anderen abzuheben und gleichzeitig die Rolle der Stellvertreter*innen des Judentums auszufüllen. Neben offensichtlichen antisemitischen Beleidigungen finden sich im Kontext Schule viele verdeckte Formen des Antisemitismus, von Anspielungen auf die NS-Zeit bis zu Befragungen über israelische Politik. Auch beobachten Lehrkräfte einen steten, in das schulische Alltagsgeschehen eingebetteten „Zwischendurch-Antisemitismus“. Zudem sind Lehrkräfte unsicher im Erkennen von Antisemitismus und in ihrem Handeln gegen ihn. Zu häufig wird er bagatellisiert, zum Beispiel als harmloser Scherz oder als „Pubertätssymptom“. Gefordert ist also, den Umgang mit Antisemitismus als integralen Bestandteil der Schulentwicklung zu begreifen.
Der Text fasst mehrere Beiträge aus Publikationen der Bundeskoordination zusammen. Anregungen gab es zudem von unserem Kooperationspartner SABRA – Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus.
Zum Weiterlesen:
Gideon Botsch: „Antisemitismus“ in „Themenheft Rassismus“, 3. Aufl. 2024
Marina Chernivsky & Friederike Lorenz-Sinai: „Baustein Institutioneller Antisemitismus in der Schule“, 1. Auflage 2024
Michael Kiefer: „Antisemitismus in der Schule“ in „Themenheft Rechtsextremismus & Schule“, 2. Aufl. 2024
Zur Auseinandersetzung mit diversen Aspekten des Antisemitismus organisieren wir Workshops in Zusammenarbeit mit unseren Kooperationspartnern wie dem Jüdischen Museum Berlin, dem Anne Frank Zentrum und der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA).
Antisemitismus tauch in unseren Klassen oft im Kontext der „Nahost-Frage“ auf, dies erfordert einen professionellen Umgang mit der Thematik. Die Landeskoordination Berlin organisiert Workshops in Zusammenarbeit mit unseren kompetenten Partnern wie ufuq.de, KIgA und dem Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in der Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.