Islamismus bezeichnet Ideologien und Bewegungen, die eine Gesellschaft nach vermeintlich authentischen islamischen Werten und Normen anstreben. Die Regeln, die von Islamist*innen vertreten werden, stehen oft im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundwerten und -prinzipien.
Islam, Fundamentalismus, politischer Islam?
Islamist*innen beziehen sich auf den Koran und die Erzählungen aus dem Leben von Prophet Mohammed, der sogenannten „Sunna“. Aus denen leiten sie eindeutige und verbindliche Regeln für alle Zeiten und für jeden Ort ab. Mit diesem absoluten Islamverständnis unterscheiden sich Islamist*innen von der Mehrheit der Muslim*innen. Denn für die meisten Muslim*innen sind unterschiedliche Interpretationen und Umgangsweisen mit religiösen Traditionen durchaus möglich. Schließlich wird der Islam von Muslim*innen sehr unterschiedlich gelebt. Islamist*innen aber bestehen darauf, den „einzig wahren Islam“ zu kennen. Alle anderen Muslim*innen befinden sich aus ihrer Sicht auf einem Irrweg. Der Islamismus ist also eine Lesart des Islams, aber nicht mit dem Islam gleichzusetzen.
Eindeutige Fundamente?
In wissenschaftlichen Diskussionenwerden islamistische Strömungen oft als Fundamentalismusbezeichnet. Dieser Begriff betont den Anspruch von Islamist*innen, zu den Fundamentender Religion zurückzukehren und diese so, wie sie angeblich ursprünglichgemeint waren, zu deuten und umzusetzen. Islamist*innen ignorieren dabei jedoch,dass auch unter Theolog*innen keineswegs Einigkeit darüber besteht, wiebestimmte Aussagen zu interpretieren sind oder was sie für uns heute bedeuten. DieStärke des Begriffs Fundamentalismus besteht darin, dass er die Gemeinsamkeitendieses Phänomens in unterschiedlichen Religionen herausstellt: In allenReligionen gibt es Gläubige, die für sich in Anspruch nehmen, die einzige wahreReligion zu vertreten. Dies ist also keine Besonderheit des Islams.
Politischer Anspruch
Der Islamismus beschränkt sich nichtauf ein bestimmtes Verständnis der religiösen Quellen. Charakteristisch istauch der Anspruch, die Gesellschaft aktiv und grundlegend zu verändern. Daherist häufig auch vom politischen Islamdie Rede. Damit wird der politischeAnspruch dieser Strömung betont: also das Ziel, die Gesellschaft mit all ihrenBereichen (Politik, Staat, Recht, Wirtschaft, Kultur) nach religiösenVorstellungen zu ordnen. Religion ist in dieser Vorstellung keine Privatsache,sondern bildet die Grundlage der Gesellschaft. Allerdings hat auch dieserBegriff seine Schwächen. Schließlich verbinden sich mit religiösen Wertenhäufig konkrete politische Vorstellungen und Ziele. Beispielsweise haben religiöseWerte wie Nächstenliebe oder Barmherzigkeit fast zwangsläufig auch einepolitische Bedeutung. So bezieht sich die Christlich Demokratische Union (CDU)ausdrücklich auf christliche Werte. Auch die Kirchen in Deutschland sindgesellschaftlich aktiv und gestalten die Gesellschaft mit.
Der Begriff des Islamismus beschreibt daher nicht allgemein einen politischen Aktivismus, der sich auf den Islam beruft, sondern beinhaltet konkrete politische Ziele. Nach der Definition des Verfassungsschutzes zielt der Islamismus dabei auf „die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“. Dies betrifft unter anderem Grundrechte und -freiheiten, ebenso wie Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, der Gewaltentrennung, der Demokratie sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Denn eine Gesellschaft, in der die Herrschaft nicht vom Volk, sondern von Gott ausgeht, und in der unveränderliche Regeln gelten, die im 7. Jahrhundert offenbart wurden, ist mit Pluralismus und Demokratie nicht vereinbar.
Islamismus in Deutschland
Gewaltbereite islamistischeOrganisationen wie al-Qaida oder der sogenannte Islamische Staat erhalten inden Medien große Aufmerksamkeit, stehen aber nur für einen kleineren Teil desislamistischen Spektrums. Denn Islamismus ist nicht gleichbedeutend mit Gewalt.Trotz mancher Gemeinsamkeiten unterscheiden sich islamistische Organisationenzum Teil erheblich.
In Deutschland zählte derVerfassungsschutz 2018 etwa 26.000 Islamist*innen. Hierzu gehören nebenAnhänger*innen der verschiedenen Strömungen des Salafismus auch Anhänger*innender libanesischen Organisation Hisbollah oder der palästinensischen Hamas. AuchVereine aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft sowie Teile der aus der Türkeistammenden Millî-Görüş-Bewegung gelten als islamistisch. Gemeinsam ist ihnendas Ziel, eine islamische Ordnung zu errichten, wie sie nach ihremIslamverständnis richtig wäre.
Dschihadistische und legalistische Organisationen
Diese Organisationen unterscheidensich auch in den Methoden, die sie zum Erreichen ihrer Ziele anwenden und diesie für legitim erachten. Der Verfassungsschutz unterscheidet daher zwischen dschihadistischen Organisationen, dieihre Ziele grundsätzlich auch mit Gewalt („Dschihad“ verstanden als gewaltsamerKampf) verfolgen, und gewaltorientierten Organisationenwie der Hisbollah, Hizb ut-Tahrir oder der Hamas. GewaltorientierteOrganisationen greifen in Deutschland nicht zu gewaltsamen Mitteln, kämpfen aberin ihren Herkunftsländern auch mit Gewalt gegen Israel und andere Gegner. Als legalistisch bezeichnet derVerfassungsschutz dagegen Organisationen, die ihre Ziele auf legalem Wege, alsodurch politische und gesellschaftliche Aktivitäten, beispielsweise in derBildungs- und Sozialarbeit, durchzusetzen versuchen. Hierzu werden neben derMuslimbruderschaft auch Teile der Millî-Görüş-Bewegung gezählt. LegalistischeOrganisationen gelten als verfassungsfeindlich, sind aber im Unterschied zudschihadistischen Organisationen nicht verboten. Wie andereverfassungsfeindliche Organisationen, beispielsweise die rechtsextreme NPD,können sie sich frei betätigen. Allerdings kann die Mitgliedschaft in einersolchen Organisation zum Beispiel dazu führen, dass einem Mitglied derBeamt*innenstatus als Lehrer*in oder Polizist*in verweigert wird.
Was macht den Islamismus attraktiv?
Für die Verbreitung vonislamistischen Einstellungen und Orientierungen spielen neben Vereinen undMoscheegemeinden zunehmend auch das Internet und Soziale Medien eine wichtigeRolle. Die Reichweite solcher Medien geht häufig deutlich über die eigentliche Anhänger*innenschaftislamistischer Organisationen hinaus. Online-Angebote wie der YouTube-Kanal„Macht’s Klick“, die sich nur schwer einer bestimmten Organisation zuordnenlassen, erreichen teilweise mehrere Hunderttausend Nutzer*innen. Nicht immerist der ideologische Hintergrund auf den ersten Blick ersichtlich. Oft stehen Fragenim Mittelpunkt der Videos, die viele Jugendliche im Alltag betreffen: Wie sollich mich kleiden? Was ist richtig und was ist falsch? Ist ein bestimmtes Hobbymit dem Islam vereinbar? Trotzdem stehen die Inhalte der Kanäle für eineislamistische Ideologie, die den und die Einzelne*n dazu verpflichten will,sich nach bestimmten Regeln zu verhalten. Eigene Entscheidungen, wie jemandsein Leben leben will, verstoßen angeblich gegen den göttlichen Willen.
Götz Nordbruch ist promovierter Islamwissenschaftler und Mitbegründer und Co-Geschäftsführer des Vereins ufuq.de.
Mehr zum Thema findet ihr im Handbuch Islam & Schule, das ihr in unserem Shop kostenlos herunterladen könnt, oder im Baustein „Gender und Islam“. Zudem bieten die Handbücher „Lernziel: Gleichwertigkeit“ für die Grund- und Sekundarstufe Unterstützung für Pädagog*innen in der Schule.
Die Landeskoordination Berlin vermittelt gerne Workshops und Fortbildungen zu dem Themenblock Islamismus, Islam und Muslimfeindlichkeit. Wir arbeiten dabei u.a. mit den Kooperationspartnern ufuq.de und der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) zusammen.